Der Mäusemörder - Leseprobe

Der Mann, der in den Vormittagsstunden des 21. Juni in die Freiburger Universitätsklinik eingeliefert wurde, war braungebrannt und von kräftiger Statur. Am Morgen dieses Tages hatte er in seinem Bett die Augen geöffnet und bemerkt, dass er die Welt anders sah als an jedem anderen Tag. Er sah sie doppelt. Doch nicht nur dies beunruhigte ihn. Er konnte nicht mehr schlucken und seine Sprache war unverständlich. Als der Rettungswagen kam, hatten sich seine Lippen bläulich verfärbt. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Weder die Errungenschaften der modernen Medizin noch das Wehklagen seiner Ehefrau hatten sein junges Leben retten können.

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An einem regnerischen Freitag im späten September saß Rebecca neben Kurt Bossel in der roten Corvette. Bossel fuhr schnell. Der Sportwagen rumpelte über die Straßenbahnschienen in der Günterstalstraße, erreichte den Stadtrand von Freiburg, raste unter tropfenden Linden am Straßenrand durch das nebelverhangene Tal.

„Wohin fährst du?" fragte Rebecca.

Bossel antwortete nicht.

Mit kaum verminderter Geschwindigkeit passierte er Günterstal. Im engen Ortstor nahm er der wild klingelnden Straßenbahn die Vorfahrt. Er jagte weiter, jagte durch den Regen in Richtung Horben. Im Wald war es so dunkel, dass er die Scheinwerfer einschaltete. Hinter Horben erklomm die schmal gewordene Straße die Hügel.

„Wohin willst Du?" fragte Rebecca heftiger.

Bossel schwieg. Plötzlich bremste er scharf an einem Hof, wendete in der Einfahrt, jagte zurück, mit unverminderter Geschwindigkeit durch die 30 km-Zone von Horben, überholte einen Traktor, jagte die Straße zurück, die sie gerade gekommen waren, zwischen Wiesen, wieder durch Langackern, durch den Wald, vorbei an der Talstation der Seilbahn, zurück zur Straßengabelung. Er folgte dem Wegweiser ‚Schauinsland 11 km‘. Am Straßenrand stand ein Schild ‚Rücksicht nehmen, vernünftig fahren. Ihr ADAC‘.

„Kurt, was hast du vor?" Ihre Stimme klang schrill.

„Wart‘ es ab".

Der Regen nahm zu. Bossel fuhr noch schneller, schnitt die Kurven der ehemaligen Rennstrecke, überquerte den durchgehenden Mittelstreifen, immer wieder, die Felswand links, grau im Nebel, beängstigend nah. Plötzlich ein Bus von vorn aus dem Nichts, rechts der Abgrund. Rebecca war blass unter dem Make-up. Der Wald öffnete sich. Bossel schleuderte durch eine langgezogene Rechtskurve, vorbei an Wiesen, dann wieder Wald.

„Kurt, um Gottes Willen, was tust du?" schrie Rebecca.

In der Höhe wurde der Nebel noch dichter, welkes Laub tanzte über die Straße, machte die Fahrbahn glitschig, wo es liegenblieb. Auf dem menschenleeren Parkplatz vor der Bergstation der Seilbahn hielt er an. Der Sturm peitschte den Regen gegen die Scheiben.

„Steig aus", sagte Bossel

„Kurt, was soll das?"

„Ich will dir etwas zeigen."

„Was hast du vor?"

„Bitte komm. Ich will dir etwas zeigen." Sein Gesicht war blass vor Erregung.

„Kurt, ich habe Angst."

„Wovor hast du Angst? Etwa vor dem Regen oder dem Sturm? Hast du Angst um deine Frisur?"

Sie blieb sitzen.

„Bitte komm mit. Es ist sehr wichtig".

Rebecca schüttelte den Kopf.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir etwas zeigen. Hier."

Schließlich stieg sie aus.

Bossel ging voran durch den Nebel, griff ihren Arm, zog sie mit sich fort, einen steinigen ansteigenden Weg empor, vorbei an knorrigen Buchen, geduckt vor dem Wind, vorbei an Fichten mit toten Wipfeln, an sterbenden Ebereschen zwischen Felsen, mit Moos und Flechten an den fast kahlen Ästen. Sie knickte um in den leichten Pumps.

„Ich kann hier nicht gehen."

„Wir sind gleich da."

Bossel zog sie vorwärts. Die Steine drückten schmerzhaft durch ihre dünnen Sohlen. Endlich eine Lichtung. Gleich darauf ragten behauene Baumriesen vor ihnen ins graue Nichts. Der Aussichtsturm, ein Gerippe im Nebel. Ein paar Schritte weiter die Metalltreppe vor ihnen, aufgespannt zwischen den drei riesigen Baumstämmen, ein noch mächtigerer in der Mitte. Nebelfetzen jagten über die Lichtung.

Bossel begann zu steigen, versuchte sie mit sich zu ziehen.

„Nun komm doch."

Der Sturm ließ Rebeccas Schirm umschlagen. Sie schloss ihn und steckte ihn in ihre Tasche. „Was soll das? Was soll das bei dem Wetter?"

„Bitte komm."

Sie folgte ein kurzes Stück, blieb wieder stehen und klammerte sich ans Geländer.

„Du bist verrückt geworden."

„Komm weiter, ich bitte dich", flehte er sie an.

Der Sturm heulte zwischen den Stützen, nahm ihnen den Atem.

„Ich habe Angst."

Er zog sie mit sich höher, eine Stufe nach der anderen. Auf der dritten Plattform blieb sie wieder stehen, klammerte sich fester an das Geländer.

„Ich gehe nicht mehr weiter."

Er packte ihren Arm härter, zog, zerrte, riss sie mit sich nach oben. Keuchend stand er endlich mit ihr auf der schwankenden dreieckigen Aussichtsplattform unter dem hölzernen Dach, zwischen den noch höher aufragenden Baumriesen. Er umklammerte immer noch ihren Arm. Sein Gesicht war ganz dicht vor ihrem. Die dünnen Haare klebten an seinem Kopf, Wasser lief ihm über das Gesicht in den hochgeschlagenen Mantelkragen ...