Namibia - Namibia

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Sie waren endlich angekommen. Es war ein großer kahler Platz mit schlanken Säulenkakteen an seinem Rand, zwei, drei Meter hoch im rotbraunen Sand, im Hintergrund ein paar schüttere Kameldornbäume. In der Mitte des Platzes war ein rundes Viehgatter aus krummen, bleichen Knüppeln, dahinter braune Rinder mit ihren Kälbern, ein kleines Pferd. Hinter einem anderen Knüppelzaun lag ein großer Feuerplatz mit weißer ausgebrannter Asche. Das heilige Feuer der Herero? Der Ort, zu dem die Ahnen kamen, die Seelen der längst Gestorbenen, und ihre Botschaften denen kundtun, die das Totenreich noch nicht betreten haben? – Sehr fremd alles. Ringsherum um den großen Platz standen in einem weiten Kreis einzelne Hütten, die meisten aus Blech, eine aus Kuhdung. Ihre braunen Wände waren krumm und wie von der Sonne verbogen. Kleine Hände hatten beim Bauen ihre Abdrücke hinterlassen. Frauenhände.

Ein einziges Häuschen, nicht größer als die anderen, war aus Stein. Ein alter Mann saß dort im Schatten eines Baumes, ein schwarzer Fleck, hin­ge­kleckst in die grell leuchtende Landschaft. In seiner Nähe sollte sie hal­ten. Sie stiegen aus und Izakuje ging auf den Alten zu, während andere Män­ner sich näherten. Sie kamen von den Hütten und von den Rindern, streb­ten auf den Alten zu, als habe er sie gerufen. Als Emilia Izakuje fol­gen wollte, wies er sie mit der ausgestreckten Hand zurück. Sie fügte sich. Vielleicht war der Alte der Häuptling, vor dem Ehrfurcht geboten war.

Es war heiß in der Sonne, obwohl sie nicht mehr hoch am Himmel stand und die Schatten der Kakteen lange, dunkle Streifen in den Sand zeichneten. Bäche von Schweiß rannen über Emilias Schläfen und ihr Gesicht und kitzelten sie am Kinn, ehe sie auf ihre Bluse tropften. Schlimmer noch als die Hitze waren die Fliegen. Sie waren nicht groß und doch waren sie schrecklich. Sie setzten sich auf ihre Lippen und ihre Lider, sie krabbelten in die Nase, sie kribbelten in den Ohren, drei oder vier waren es nur, aber es war, als hätte ein Dutzend Fliegen sie heimgesucht, nein, Dutzende, ganze Fliegenschwärme! Emilia kämpfte gegen die lästigen Insekten, während die Zeit verging und die Schatten der Kakteen wuchsen, wie von Geisterhand in die Länge gezogen.

Irgendwo in ihrer Nähe weinte ein Kind, und das Schreien und Wimmern nahm kein Ende. Es war leise, nicht lauter als das Gebrumm der Fliegen, und es kam von dort, wo nichts war als ein paar Ziegen in Sand und Dornengebüsch. Es musste ein sehr kleines Kind sein, es hatte die Stimme eines Säuglings, aber niemand hielt es für nötig, sich um das Weinen zu kümmern. Die Schatten der Kakteen wanderten, die Männer redeten. Endloses Hin und Her! Izakuje hockte vor dem Alten im Sand, ihr den Rücken zugewandt und schien sie längst vergessen zu haben.

Dann kehrte Izakuje doch zurück. Sein Gesicht, sein Gang waren wie die eines Gladiators nach erfolgreichem Kampf. Der Alte wolle sie sehen, sagte er. Izakuje benutzte ein Herero-Wort für den alten Mann, das sie nicht kannte und nicht gleich behielt. „He wants to see you“, sagte er.

Der Alte saß auf einem Gartenstühlchen, groß und aufrecht und stolz wie auf einem Thron. Der Hirtenstab, den er neben sich auf den Boden stützte, das war sein Zepter. Die anderen waren seine Untertanen. Die Diener kamen schon herbei, ein Mann mit einer alten Colakiste – das war der Sessel für ihre Audienz –, ein anderer mit einer Thermoskanne – Tee zu ihrer Begrüßung – ein dritter mit abgestoßenen Henkelbechern aus blauem Blech.

„Moro“, sagte der Alte. Er streckte ihr die Hand entgegen mit ernstem Gesicht, er griff ihre, griff noch einmal nach, umfasste ihren Daumen, drückte ihn, drückte dann noch einmal ihre Hand in einem feierlichen und wortlosen Ritual. Seine Hand, in der Emilias versank, war riesig. Sie fühlte sich an wie eine mit Leder bezogene Schaufel, sehr derb, aber kühl und trocken trotz der Hitze. Beim Händedruck hatte sie einen Ring an seiner Hand gespürt. Es war ein silberner Ring mit einem schwarzen Stein: ein schwarzer Turmalin wie der Sockel von Hoseas Stein? Das Gesicht des Alten war wie aus demselben schwarzen Holz geschnitzt wie Izakujes, mit breiten Lippen, schwarz auch sie, selbst die Augen waren schwarz, alles darin war dunkel, sogar die Augäpfel hatten dunkle Flecken, als habe das Weiß den Kampf gegen die schwarze Farbe verloren. Von jeder Geste des Alten ging eine tiefe Würde aus, alles an ihm war majestätisch. Seine weite Hose aus grobem braunen Stoff tat dem keinen Abbruch, auch nicht die großen Flicken, die von den Knien bis zu den Hüften reichten, nicht das rote Polohemd mit dem speckigen Kragen, nicht die brüchigen, schiefen Latten seines Stuhls. Er betrachtete Emilia lange, so lange, dass sie sich unbehaglich fühlte. „Er will dich sehen“, hatte Izakuje gesagt. Vom Reden hatte er nicht gesprochen.

„Wie geht es Ihnen?“

Emilias Überraschung über seine Frage in deutscher Sprache war zu groß, um eine seinem Ernst angemessene Antwort zu finden.

„Sie sprechen Deutsch?“

Er antwortete ihr nicht, er hörte nicht auf, sie anzusehen, Zeit hatte er genug, das hatte er schon gezeigt, Zeit zum Reden, Zeit zum Ansehen, Zeit zum Schweigen. Nein, er verstand kein einziges ihrer Worte. „Wie geht es Ihnen?“, damit erschöpfte sich sein Deutsch. Dann sprach er zu ihr mit lauter, Achtung gebietender Stimme, ein Zauberpriester, umgeben von seinen Ministranten in einer grenzenlosen und himmelhohen Kathedrale. Feierliche Worte fand er, die Izakuje übersetzte. Er sprach vom Regen, der in diesem Jahr nur spärlich gefallen war, von den Rindern, die verhungern würden, wenn die Trockenheit zu lange anhielt, von den Jahreszeiten, die immer wiederkehrten und er redete davon, dass alles so war wie es war, dass alles ist, wie es ist, und wertete nicht in Glück oder Unglück und nicht in Schuld oder Unschuld. Er richtete sich höher auf, während er immer neue Sätze bildete, er kippte sein Stühlchen nach hinten, wuchs noch weiter empor, während Emilia vor ihm auf dem niedrigen Kasten hockte. Und wie er mit seinen Worten höher und höher stieg, sank sie tiefer vor ihm, sah sich bald vor seiner Erhabenheit untergehen im lockeren Wüstensand.

Ihre Frage nach Unotjari überging Izakuje, so als hätte sie sie nicht gestellt. Vielleicht war der Alte noch nicht am Ende mit seiner Rede oder es war nicht an ihr, Fragen zu stellen. Doch dann sollte sie reden, denn der Alte hatte seine Predigt beendet. Er fragte sie nach Geschichten, die sie ihm aus ihrem Land mitbringe.

Sie sagte, sie sei müde von der langen Fahrt. – Das war nicht die Antwort, die er erwartete.  

Nun fragte sie selbst nach Unotjari. Sie wiederholte den Namen, sie sprach ihn so deutlich, dass dem Alten ihr Anliegen nicht entgehen konnte. „Unotjari?“ Vielleicht war es ein Fehler, aber sie war nicht bereit, die Ungewissheit noch länger zu ertragen.

„Unotjari?“, fragte sie wieder.

Sie hatte sich nicht getäuscht, irgendetwas war falsch an dem Namen, war falsch an ihrer Frage, war verboten. Das Gesicht des Alten verschloss sich, wurde zu einer schwarzen Maske, mehr noch, es wurde feindselig und die Fremdheit, die das Ritual der Begrüßung zugedeckt hatte, trat mit einem Mal grell hervor. Schon ihr Hiersein war falsch.

Der Alte wandte sich um und sein Blick suchte den des Mannes, der die Becher für den Tee gebracht hatte, hielt an ihm fest. Sie wechselten Worte, die niemand übersetzte. Der Mann war eine schmächtige Gestalt mit schiefen Schultern und kurzem Hals, geradezu kläglich neben Izakuje, und seine Haut hatte die Farbe von nassem Schwemmholz. Er stand abseits, eine Hand auf den Hirtenstab gestützt, der selbst für ihn zu kurz war, um aufrecht zu stehen, und für einen Augenblick dachte sie, dies sei der Grund, weshalb er so schief war, der kurze Stock in seiner Hand, jahrein, jahraus, wenn er ging, wenn er stand, und immer war der Stock zu kurz.

„Unotjaris Vater“, sagte Izakuje in die Stille hinein und im nächsten Moment dachte Emilia, dass er wohl auch Nandesoras Vater sein würde.

Der Alte fragte, was Emilia von Unotjari wolle.

„Ich suche Nandesora. Unotjari soll wissen, wo sie ist.“

Izakuje übersetzte die Worte, dann war Stille, als wäre etwas explodiert.

Der Alte wandte seinen Blick in Emilias Richtung, aber er sah sie nicht an. Sein Blick ging durch sie hindurch und verschwamm in irgendeiner unerreichbaren Ferne. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Unotjaris Vater lehnte stumm auf seinem Hirtenstab, auch die anderen Männer verharrten reglos, als wären sie zu ihren eigenen schwarzen Standbildern erstarrt.

Endlich sprach der Alte: „Warum suchst du Nandesora?“, übersetzte Izakuje die Frage.

„Sie hat als kleines Kind auf der Farm meiner Eltern gelebt. Ich möchte wissen wie es ihr geht.“

Der Alte bewegte seinen riesigen Schädel hin und her, langsam wie ein schaukelnder Elefant. Vielleicht sollte es ein Kopfschütteln sein. Izakuje zuckte mit den Schultern und sah angestrengt zu den Rindern im Pferch hinüber.

Emilia hätte den Männern gern geschildert, warum ihr Nandesora so wichtig war, aber die wenigen englischen Worte Izakujes reichten nicht aus für eine Erklärung, die die Barrieren hätte niederreißen können und die Feindseligkeit und das Misstrauen zu zerstreuen, für die sie keine Erklärung hatte. So schwiegen sie, nahmen Maß aneinander und Emilia wurde das Gefühl nicht los, dass sich an diesem abgelegenen Ort ein bedrückendes Geheimnis verbarg. Izakuje sah noch immer an ihr vorbei, als sie seine Augen suchte. Sein Blick verlor sich in der Richtung, aus der wieder das Wimmern kam. – Dann, in die Mauer des Schweigens hinein, stellte Emilia die nächste Frage, es war ein Versuch, und sie wusste, dass auch die verboten war. „Ist Nandesora hier?“ 

Dunkle, reglose Gesichter, in denen sie nicht lesen konnte. Nun redeten die Männer miteinander. Langsam suchten sie nach Worten, verbanden sie zu Sätzen, von langen Pausen unterbrochen, Silben kehrten wieder, wie in einem frommen Wechselgesang und immer wieder ein langes Hmm. Gab es noch eine wichtigere Silbe als Hmm? Magere Hunde strichen um sie herum, das Fell mit Wunden bedeckt, eine Katze, ein dürres Huhn mit einem winzigen zerzausten Küken kratzte im Sand, arglos vor den spitzen Zähnen der ausgehungerten Hunde. Andere Männer kamen, stimmten ein in die Litanei, gingen wieder. Emilia wartete. Hatten die Männer sie längst vergessen?

Schließlich fragte sie nach einer Toilette. Izakuje übersetzte. Schweigen. Endlich lachte jemand.

„Dort“, sagte Izakuje und zeigte zu den Büschen.

Emilia ging in die Richtung, aus der sie das Wimmern gehört hatte. – Das Kind war ein Zicklein bei seiner Mutter und sie wusste nicht, was ihm fehlen könnte.