Die Farbe des Todes ist Schwarz - Leseprobe
Seine Neugierde selbst am Belanglosesten, nichts sonst, seine Neugierde und sein Forschungseifer waren es, die Professor Alexander Kilian davon abhielten, die zerknitterte Kalenderseite einfach in den Papierkorb zu werfen. Nicht nur die rätselhaften Abkürzungen und die Telefonnummer mit der unbekannten Vorwahl fesselten ihn, mehr noch war es die Tatsache, dass sich offenbar jemand die Mühe gemacht hatte, den Zettel zu verbergen. Und dieser Mensch, wer auch immer es gewesen war, lebte nicht mehr. Beide Männer, die vor ihm an diesem Schreibtisch gearbeitet hatten, waren seit Jahren tot. Die kaum noch lesbaren mit Bleistift geschriebenen Zeichen und die Nummer waren die Notiz eines Toten, Buchstaben zur Erinnerung für jemanden, der sich nicht mehr erinnerte, dazu die Telefonnummer eines Apparates, irgendwo, sicher weit weg, nicht in Europa, auch nicht Amerika, vielleicht in Asien, vielleicht in Australien oder in Afrika. 008 oder 0081, das musste die Landeskennzahl sein. 008, er war sich sicher, diese Vorwahl noch nie benutzt zu haben.
Alexander Kilian ließ sich wieder vor dem Schreibtisch auf die Knie nieder und untersuchte noch einmal den kleinen Hohlraum zwischen dem Platz für die unterste Schublade und dem Rahmen, wo er den Zettel gefunden hatte. Er beugte sich noch weiter vor, um das kleine zufällige Geheimfach zu untersuchen, tastete hinein in das Dunkel, gespannt, als suche er einen Schatz. Tatsächlich war da noch etwas, flach und kaum zu greifen. Endlich zog er es hervor, ein verstaubtes Kuvert, öffnete es. Noch immer auf den Knien nahm er das Bild heraus, das in dem Umschlag verborgen war, das Foto einer dunkelhaarigen Schönheit, sehr jung, viel zu jung für jeden der beiden Toten, denen das Bild gehört haben mochte. Auch auf der Rückseite des Fotos stand eine Telefonnummer, offenbar von derselben Hand geschrieben wie die auf dem Zettel. Diese Zahlenreihe, die mit 062 begann, konnte eine Nummer in Deutschland sein, vielleicht in Mannheim, vielleicht in Heidelberg, jedenfalls nicht weit von Freiburg entfernt.
Der Professor blieb am Boden sitzen inmitten des Chaos, das er um sich herum verbreitet hatte, das schmale Gesicht an den Schreibtisch gelehnt und tief in Gedanken versunken. Um ihn herum lagen die drei Schubladen, die er zu keinem anderen Zweck aus dem Schreibtisch herausgezogen hatte, als sich endlich von diesem überflüssigen Ballast zu befreien, von vertrockneten Stempelkissen, Holzfigürchen aus Afrika, alten Teebeuteln, aus denen der Inhalt rieselte, steinharten Radiergummis, einer henkellosen Teetasse und Unmengen von Briefumschlägen mit vergilbten und unbrauchbar gewordenen Haftstreifen. Er konnte sich nicht entschließen, den Zettel für belanglos zu halten. Seit mehr als drei Jahren war Kurt Bossel tot, Selbstmord durch Sturz vom obersten Balkon des Neurozentrums der Freiburger Universität, ein ewiger Verlierer, der Privatdozent Dr. Kurt Bossel, ein Ritter von der traurigen Gestalt, einer dem sich das Glück entzog, sobald er es ergreifen wollte. Kilian studierte noch einmal den zerknitterten Zettel. Aber das war nicht Bossels Handschrift, das war nicht diese zwergenhaft kleine, akkurate Schrift, die mehr über den kommissarischen Leiter dieses Institutes verraten hatte, als ihm lieb gewesen sein konnte. Wenn es wirklich die Schrift dessen war, der den Zettel verborgen hatte, dann musste es die von Andreas Martini sein. Kilian hatte ihn gut gekannt, den kleinen, immer freundlichen Professor, der vor ihm das Institut für Molekulargenetik geleitet hatte. Er rechnete. Fünf Jahre lag der Tod seines Vorgängers zurück – ob durch Unfall, Selbstmord oder sogar Mord war nie geklärt worden – und wahrscheinlich hatten das Foto und der aus einem Kalender herausgerissene Zettel die ganze Zeit unentdeckt unter der Schublade geruht.
Professor Andreas Martini, dieser Name war für Kilian untrennbar mit einem Bild verbunden, das er nie wirklich gesehen hatte, mit dem eines Mannes in einem dunkelgrünen Audi; ein rundlicher Mann, eingezwängt auf seinem Sitz, die Hände vom Lenkrad geglitten, so verharrend, Tag für Tag, eine ganze Woche, zwei Wochen, ein dritte Woche. Ringsum trübes Wasser, auch im Auto hinter den geöffneten Fenstern das Wasser des Rheins, dazu Fische, Aale vielleicht, gefräßig am Körper des Toten, bis endlich die sinkenden Fluten den Wagen freigaben.
Kilian nahm noch einmal den Zettel zur Hand. Die Buchstaben waren kaum noch zu entziffern und die Abkürzungen blieben rätselhaft, so sehr er darüber nachdachte. Die Telefonnummer war noch gut zu lesen. 008, es würde leicht sein, das Land zu ermitteln. Dann sah er den Zettel genauer an. Es war die Seite mit den Terminen der Schulferien. Jetzt fiel ihm die Jahreszahl auf: 1999, das war das Jahr, als Martini ums Leben kam. Im Jahr seines Todes hatte er diese Nummer notiert und versteckt.
Der Professor hatte das Klopfen nicht gehört, jedenfalls nicht rechtzeitig genug, um sich vom Boden zu erheben. Sie öffnete schon die Tür, während er sich noch mühte, wieder auf die Beine zu kommen. Natürlich hatte sie geklopft – als gute Sekretärin wusste sie, was sich gehört – aber nur ganz kurz, wahrscheinlich mit der linken Hand, während die rechte schon die Klinke herunterdrückte.
Beate Brändle erstarrte. „Mein Gott, was ist denn hier passiert?“
Kilian richtete sich zu seiner ganzen stattlichen Größe auf und strich die in die Stirn gefallene Strähne seiner vollen, noch kaum ergrauten Haare zurück. Er versuchte eine würdige Haltung einzunehmen, aufrecht und mit strengem Blick aus seinen dunklen Augen, im vergeblichen Bemühen, das lächerliche Bild des zwischen den herausgezogenen Schubladen auf dem Boden sitzenden Chefs aus ihrem Gedächtnis zu tilgen.
*
In diesen kurzen Augenblicken entstand unter seinen Händen der Schwarze Tod! Tausende, Zehntausende, vielleicht Millionen der Bakterien nahmen die fremde Erbsubstanz auf und verwandelten sich in die todbringenden Erreger. Akio saß mit weit offenen Augen. Er starrte auf das Röhrchen und dann träumte er sich fort in eine andere Welt, eine Welt, in der der Tod das Böse besiegte
Rezension
Badische Zeitung, Freiburg, 11.10.2005
Zwei Krimis, zwei Welten
... Alexander Kilian, Professor am Institut für Molekulargenetik der Freiburger Universität, kann auf jede weitere Leiche verzichten. Nachdem im Stadtgarten ein Mann an seiner Stelle ermordet wurde, ein Mitarbeiter seines Instituts plötzlich an der Pest stirbt, muss er sein genialisch unordentliches Forscherleben disziplinieren – was ihm so gar nicht passt. Ganz in der Tradition Bertolt Brechts, dem der Kriminalroman eines der wichtigsten Erkenntnismittel war, hat sich die 56-Jährige Villinger Kinderärztin Renate Klöppel mit Kilian in ihrem neuen Wissenschaftskrimi „Die Farbe des Todes ist Schwarz” eine liebenswerte Figur geschaffen, die durch ihre Tätigkeit eine Verknüpfung mit den terroristischen Zielen der japanischen Endzeit-Sekte AUM ermöglicht, die tatsächlich einst den Untergang der Welt herbeiführen wollte: Ihr Anführer und ”Visionist” Shoko Asahara wurde in diesem Jahr zum Tode verurteilt, weil seine Anhänger 1995 das Gift Sarin in der U-Bahn von Tokio freiließen. Dabei wurden 12 Menschen getötet und 5500 verletzt. Seine Sarinvorräte reichten, um insgesamt vier Millionen Menschen töten zu können. Die Nähe zur realen terroristischen Bedrohung der Menschheit und Klöppels Schilderung, wie relativ leicht biochemische Kampfstoffe hergestellt werden können, machen ihren Roman zu einem be- ängstigenden Leseerlebnis rund um die Genforschung, deren Gefahren noch immer unterschätzt werden. „In einem Kriminalroman habe ich die Möglichkeit, ganz anders über solche Zusammenhänge zu sprechen als in meinen Fachbüchern”, sagt die Autorin zu Recht. Denn sie schafft es, das Genre schriftstellerisch hervorragend zu nutzen, um die Bedrohungen der modernen Zeit auf der Höhe der Wissenschaft zu transportieren. Klöppel, die auch Mitglied bei den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ist und sich seit 1999 der belletristischen Schriftstellerei widmet, hat schon ihren ersten Roman, ”Der Mäusemörder” (2001), im Freiburger Universitätsmilieu angesiedelt. Dass sie literarisch noch mehr beherrscht als das Krimigenre, bewies Klöppel im Übrigen mit ihrem Roman über die revolutionäre Linke im Deutschland der 70er-Jahre, ”Der Pass” (Rotbuch Verlag). Und auch die Lebensgeschichte einer schizophrenen Malerin „Die Schattenseite des Mondes“ (Rowohlt 2004) zeigt sie als genaue Beobachterin der Menschen.
Mechthild Blum