Die Tote vom Turm - Leseprobe

Alexander Kilian hatte seit Tagen gewusst, dass er Ingrid in dieser Woche wiedersehen würde. Nur nicht jetzt, nicht so. Seit dem Besuch der beiden Kriminalbeamten am frühen Morgen hatte er versucht sich innerlich auf diesen Moment vorzubereiten. Trotzdem erschütterte ihn der Anblick mehr, als er erwartet hatte.
    Ihr Make-up war sorgfältig wie immer. Sie hatte die Augen geschlossen als schliefe sie und die Falten, die sich bei jedem Mienenspiel verstärkt hatten, waren verstrichen. Unter dem blauen Tuch war ihr Körper grotesk verbogen, die linke Hälfte des Beckens stak spitz hervor, der untere Teil des Brustkorbs war nach vorn gewölbt.
    Sie musste auf der Stelle tot gewesen sein.  

    Er nickte. "Ja, es ist Ingrid."

    Kriminalhauptkommissar Geßler schlug das Tuch wieder über das Gesicht der Toten und nahm seinen Freund am Arm.

    "Lass uns gehen."

    Kilian entzog sich der Hand. Sein Wunsch zu fliehen, der ihn auf dem Weg hierher beherrscht hatte, war vergangen. Eine eigenartige Faszination zwang ihn das Tuch beiseite zu schieben und sich noch einmal über den Leichnam zu beugen. Es war nicht das Grässliche ihres zusammengestauchten Körpers, nicht ihr erstarrtes Gesicht, es war das Unabänderliche, das Unvorstellbare ihres Todes, des Todes überhaupt, was ihn länger bei der Leiche verweilen ließ, als es erforderlich war. Als er sich wieder aufrichtete war er blass geworden. Trotz der Kälte stand Schweiß auf seiner Stirn und glitt in Perlen über seine Schläfen.  

    Geßler stand neben ihm und zupfte nachdenklich an seinem Seehundsbart. "Du bist Arzt. Ich dachte, der Anblick einer Toten wäre dir vertraut."

    Kilian schüttelte den Kopf. "Ich bin Wissenschaftler. Als Molekulargenetiker sehe ich keine Leichen."

    "Komm", sagte Geßler noch einmal. Kilian schlug das Tuch wieder über das Gesicht der Toten und wandte sich dem Kommissar zu: "Und", er machte eine Pause, "trotz allem war sie meine Frau." Dann ließ er sich von Geßler fortziehen.

    Wortlos verließen sie den weiß gekachelten Raum, stiegen die blauen Treppenstufen wieder hinauf und traten aus dem nüchternen Klinkerbau des Instituts für Rechtsmedizin in den dünnen Regen, der seit den Morgenstunden unaufhörlich aus dem konturlosen Himmel rann. Nach ein paar Schritten blieb Kilian schweigend stehen. Als er endlich sprach, war seine Stimme rau und unsicher.

    "So hatte ich mir das Wiedersehen nicht vorgestellt."

    Die tiefe Betroffenheit seines Freundes hatte Geßler nicht erwartet. Nach der Trennung war Ingrid jedes Mittel recht gewesen, ihren Mann zu belästigen. Die Geschichte mit dem Leichenwagen fiel ihm ein. Sie hatte ein Beerdigungsunternehmen zu Kilians Wohnung geschickt um seine Leiche abholen zu lassen.

    Er sah ihn eine Weile von der Seite an. "Entschuldige die Bemerkung", sagte er dann zögernd, "aber eigentlich kannst du doch froh sein, dass das Theater mit Ingrid vorbei ist. Sie erspart dir sogar die Scheidung und vor allem viel Geld."

    Eine Zeit lang war nichts zu hören als das Brummen einer Kühlanlage hinter den grünen Lüftungsschlitzen des Untergeschosses, ein aufdringliches Geräusch, schauerlich in seiner Eintönigkeit

    "In der Tat", antwortete Kilian endlich mit leiser Stimme, "ich bin froh, dass sich dieses Drama erledigt hat."

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Ein paar hundert Meter vor Kilian fuhr der Range Rover. Spätestens jetzt konnte der Dicke die ihm folgenden Scheinwerfer nicht mehr übersehen. Er musste ahnen, dass der Wagen, der ihm so lange auf der menschenleeren Straße folgte, nicht zufällig hier fuhr. Als die roten Lichter hinter einer Kurve verschwanden, schaltete Kilian seine Scheinwerfer aus. Mit einem Schlag erlosch die spiegelnde Nässe auf der Fahrbahn. Es erloschen der weiße Mittelstreifen und die seitliche Fahrbahnmarkierung ebenso die weißen und roten Katzenaugen der Begrenzungspfähle und die rotweißen Richtungspfeile vor der nächsten Kurve. Für einen entsetzlichen Augenblick umgab ihn nichts als schwarze Nacht, kein noch so schwacher Schimmer eines Lichtes, nicht die Spur einer Kontur. Er trat auf die Bremse im plötzlichen Schreck, fuhr irgendwo, ehe er endlich den Schalter wiederfand und die Scheinwerfer aufleuchteten. Direkt vor ihm jetzt der linke Fahrbahnrand. Es war unmöglich dem anderen ohne Licht zu folgen.
    Kurz darauf wieder ein Ort, endlich eine große Straße, aber auch hier kaum ein Auto. In Ichenheim bog der Range Rover von der Hauptstraße ab, fuhr langsam kreuz und quer durch den Ort – Kilian hatte jede Orientierung verloren – und erreichte einen asphaltierten Feldweg. Hier war die Durchfahrt verboten, sie fuhren trotzdem, beide, der Verfolger und der Verfolgte, der längst nicht mehr versuchte, ihn abzuschütteln. Jetzt packte Kilian die Angst, aber er fuhr weiter, bald nicht mehr auf Asphalt, sondern über einen Schotterweg, ausgefahren und voller Schlaglöcher, also vielleicht doch ein Schleichweg zu irgendeinem Ziel, das nur der andere kannte. Vierzig, fünfzig Meter vor ihm die roten Lichter des Range Rovers, neben ihnen noch immer kahle Felder, einmal verdorrter Mais, den niemand geerntet hatte, dann ein Waldstück. Kilian starrte auf den Weg und versuchte vergeblich den Schlaglöchern auszuweichen. Den Wagen, der wenige Meter vor ihm auf einem abzweigenden Waldweg stand, sah er viel zu spät. Das war nicht der Wagen eines Liebespaares oder eines Jägers. Der Wagen wartete auf ihn. Kilian wusste es, aber es war zu spät. Die Falle, die ihm der Koloss gestellt hatte, schnappte zu. Er ahnte, was jetzt kommen würde mit qualvoller Deutlichkeit voraus, doch die Notwendigkeit des Handelns vergaß er. Der dunkle Jaguar schoss nach vorn, quer über den Weg und versperrte die Durchfahrt, während der Geländewagen im Dunkel des Waldes entkam.
    Sie waren zu dritt. Zwei Männer in schwarzen Lederjacken sprangen aus dem Wagen, rissen die Fahrertür auf, ehe er daran dachte, sie zu verriegeln und zerrten ihn aus seinem Wagen. Sie hielten ihn von hinten fest, während der Dritte, mit Sonnenbrille trotz Regen und Dunkelheit, auf ihn zu kam. Ruhig, ohne ein Wort zu sprechen, fast langsam, holte er aus und versetzte ihm einen Schlag in die Magengegend, holte noch einmal aus, während die anderen den Wehrlosen aufrichteten, der in die Knie gegangen war, schlug wieder zu, ein zweites Mal, ein drittes, dann ließen sie ihn so plötzlich los, dass er zu Boden stürzte. Das alles geschah lautlos und unwirklich, wie in einem Film, dessen Ton a
bgestellt ist.