Die Schattenseite des Mondes - Leseprobe

Es war ein trüber Wintertag im Februar, Nebel in der Luft und die Stadt grau und konturlos, der Tag, der mich abschnitt von der Welt, deren Teil ich gewesen war, und der mich ausstieß aus meinem bisherigen Leben. Niemals nach diesem Tag sollte alles wieder sein wie zuvor. Die junge unbekümmerte Mutter, die sorglose Kunststudentin, ist an diesem Tag gestorben.

Sie sitzen im Kreis, als ich als letzte komme, hinter ihnen die Staffeleien, die Tische mit den Farben und Pinseln. Ich sehe ihre Gesichter, helle Scheiben mit dunklen Augenschlitzen, sehe gebeugte Rücken auf den hohen Schemeln, sehe Holgers schwarze Haare, seine eckigen Schultern. Ich schließe die Tür hinter mir, bleibe stehen. Jetzt bemerken sie mich, zuerst die, deren Gesicht der Tür zugewandt sind, dann die anderen, sie drehen sich um, unwillig und abweisend. Holger, der jetzt verstummt, lässt das Bild in seinen Händen sinken und blickt in meine Richtung. Ich klammere mich an die Mappe mit meinen Zeichnungen, sehe seine Augen, sehe die feindseligen Blicke der anderen zwölf.

Niemand macht Platz für mich.

Dann, während ich noch unbeweglich stehe, geschieht das Unfassbare. Ich sehe die Pfeile, die sie senden, spitze, schwarze Geschosse, die mich erreichen, mich mitten ins Herz treffen, wo sie mit furchtbarem Schmerz stecken bleiben. Ich fühle das Gift in meinem Körper und ich weiß, ich werde sterben, getötet von ihren Pfeilen, vernichtet von dem Zauber, den sie über mich gebracht haben. Mein Mund öffnet sich, ich will schreien, aber ich bleibe stumm.

Qualvolle, unerträgliche Angst. Todesangst!

„Warum setzt du dich nicht?“ fragt Holger. Endlich macht mir jemand Platz. Aber ich weiche zurück. Die Pfeile! Sie stecken noch immer in meinem Herzen. Ich sehe sie und ich fühle wie sich das Gift ausbreitet. Ihr Neid, ihre Missgunst sind leibhaftig geworden, ihre Gefühle haben sich verwandelt in Materie, ihre Gedanken in greifbare Realität.

„Maria, was ist los mit dir?“

Ich antworte nicht.

Das ist der Zauber! Sie haben mich nie gemocht. Was mich getroffen hat, ist ihr Hass. Es ist die Vergeltung für meine Liebe zu Holger.

Grauenvolle Angst!

Ich verlasse das Atelier, fliehe den langen Gang entlang, die Treppe hinunter, hindurch zwischen Castor und Pollux auf ihren bronzenen Pferden, fort von der Akademie. Die Pfeile! Ich muss die Pfeile loswerden und den Tod, der in mich eingedrungen ist, und der mich zerfrisst, mich zerreißt, mich vernichtet. Ich sehe nicht die rote Ampel am Siegestor, höre nicht das Hupen der Autos und das Quietschen der Reifen. In mir ist nichts als ein Abgrund aus Schmerzen, Angst und Verzweiflung.

 

Der Geliebte

 

Wir dürfen unsere Liebe nicht zeigen. Sie ist unser Geheimnis. Über unsere Liebe zu sprechen, würde sie zerstören. Ich darf nicht einmal du und Holger zu ihm sagen.

Außer im Unterricht sprechen wir nie miteinander. Nichts weiß ich über seine Familie, seine Kindheit, weiß nicht einmal, wo er geboren wurde. Seine Bilder kenne ich und ich weiß, wo er die Abende verbringt. Ich kenne seine Ausstellungen. Ich kenne sein Gesicht, seine Gestalt. Ich kenne seine Stimme und die Worte, die er zur Klasse spricht. Das ist alles.

 

In dieser Nacht kommt Holger zu mir. Ich fühle seine Berührungen auf meinem Körper, seine Hände, seinen Mund, seinen Atem, ich sehe seine bleiche Gestalt. Er presst sich an mich, seine warme, weiche Haut, seinen nackten Körper, und da ist nichts als seine Leidenschaft und mein Begehren, ein wilder Strudel, er reißt mich fort und fort in einer unerträglichen Erregung. Brutal dringt Holger in mich ein. Mit dem Schmerz explodiert mein Körper. Die Lust wandelt sich in eine entsetzliche, nicht enden wollende Erschütterung und eine quälende Ekstase reißt mich in Stücke. Ich sehe meine Zerstörung und fühle sie leibhaftig. Meine Nerven werden zu glühenden Strän­gen in einer grauenvollen, unaus­weichlichen Wirklichkeit und das lodernde Flammenmeer, das mich erfüllt, versengt meinen zuckenden Leib und verbrennt mich zu Asche.

Ich treffe Holger am nächsten Tag. Er kommt mir entgegen in dem langen Flur vor den Klassenatelier, eine dunkle Gestalt mit eckig pendelnden Armen und schlur­fenden Füßen auf den weißen und blauen Mosaiksteinchen des Fußbodens. Ich weiß, dass er es ist, lange, bevor ich sein Gesicht erkenne.

„Guten Morgen“, sagt er, als wir uns begegnen. Seine Stimme ist rau und etwas heiser. Dann sieht er zu Boden. Du schämst dich, denke ich, du hast mich vergewaltigt heute Nacht, und dafür schämst du dich. Dein gesenkter Blick ist das Zeichen, dass du wirklich bei mir warst.

– Aber ich verzeihe dir.

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