Schlangensaat - Leseprobe

Warum er ? Warum musste ausgerechnet er die Tote finden ? Diese Tote. Hier in seinem Institut, wo er sie nicht einmal zu Lebzeiten hatte sehen wollen. Alexander Kilian starrte in das leblose Gesicht. Er brauchte die Frau nicht zu berühren, um zu wissen, dass er ihr nicht mehr helfen konnte. Sie lag auf dem Rücken vor der großen Beckmann-Ultrazentrifuge auf dem gefliesten Boden des Zelllabors, den Kopf leicht zur Seite gedreht. Der Mund war geöffnet und der Unterkiefer der Schwerkraft folgend zur Seite abgesunken. Die halb geschlossenen dunklen Augen gaben der Toten den schläfrig-sinnlichen Ausdruck, der ihn an der Lebenden gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen hatte. Sie war sehr blass. Wie Wachs, dachte er, wie weiße Kerzen auf einem Altar, und er fragte sich, ob Tote immer so aussahen. Oder war das, was sie zu Boden geworfen hatte, doch nur eine Ohnmacht, aus der es ein Erwachen gab ? Er war Mediziner, aber Wissenschaftler, und als Professor für Molekulargenetik sah er keine Toten. Alexander Kilian beugte sich zu dem reglosen Körper herunter, berührte neben dem Kragen der engen Bluse den Hals, der noch warm war, suchte den Puls, aber da war kein Herzschlag zu fühlen, gar nichts war da mehr. Als er sich wieder aufrichtete, stand Schweiß auf seiner Stirn. Er sank auf einen Laborschemel, stützte die Ellenbogen auf den Arbeitstisch und vergrub den Kopf in den Händen. Er musste an einen steilen Hang denken, den er immer weiter hinuntertaumelte, mit jedem Schritt, den er tat, tiefer hinab in den Abgrund, ohne Hoffnung, sich jemals wieder daraus zu befreien. Der Abgrund tat sich immer auf, wenn er an das Geheimnis dachte, das ihn mit dieser Frau verband. Er hatte sich schon aufgetan, als sie noch lebte. Die Polizei, dachte er, aber er ging nicht zum Telefon, noch nicht.

Er ließ sich neben der Toten auf die Knie sinken und strich ganz sanft über das dunkle schulterlange Haar. Er betrachtete sie lange. Entsetzen, Verzweiflung oder Trauer? Er wusste nicht genau, welches Gefühl am stärksten war. Angst? Ja. Er hatte Angst, weil diese Frau nicht mehr lebte. Vor allem das.



Rezensionen

"Schlangensaat": Der neue Kriminalroman der in Freiburg lebenden Autorin Renate Klöppel beackert das Feld der Genpflanzen.

So, so. Renate Klöppel lässt doch tatsächlich diesen sonst so treu, fast keusch gezeichneten Kauz Alexander Kilian, Professor am Institut für Molekulargenetik der Freiburger Universität, auch in ihrem fünften Kriminalroman "Schlangensaat" wieder Hauptfigur, fast seinen Kopf verlieren. Und sogar die bislang unverbrüchliche Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Ina riskieren, mit der er eine kleine Tochter hat. Ein alternder Mann ist er, an dem die Studentenbewegung der 1968er ebenso vorbeigegangen zu sein scheint wie die sogenannte sexuelle Revolution. Kein Wunder, dass er sich allein schon von der äußeren Erscheinung der blond-lasziven Studentin Xenia Elytis verführt fühlt. Bei ihm promovieren? Unsinn. In Wirklichkeit, da ist er sich ganz sicher, begehre sie ihn nicht als Doktorvater, sondern als Mann.

Und dann liegt sie eines späten Abends tot in seinem Labor. Klöppel baut die Geschichte in einer Abfolge geschickter Verschachtelungen unterschiedlicher Zeitebenen auf. Sie entsprechen den quälenden Erinnerungen Kilians an seine Erlebnisse mit Xenia. Denn für ihn gibt es keine Zweifel – ganz im Gegensatz zur Polizei –, dass sie ermordet worden ist und er der Tat verdächtig. Er betrachtet ihre Annäherungen und Fluchten aus immer neuen Blickwinkeln, rekapituliert ihre Gespräche auf der Suche nach Anhaltspunkten für ein Verbrechen. Gleichzeitig verdächtigt er Ina einer Liebesbeziehung zu Jörg, seinem besten Freund, dem attraktiven Kommissar mit dem Dreitagebart. Ein sehr schönes Lehrstück über Projektion!
Klöppel, die seit 2007 in Freiburg lebt, siedelt ihren mit vielen Dialogen auch sprachlich dicht gewobenen Plot um einen international tätigen Konzern für patentierte Saatgutzüchtungen und gekaufte Wissenschaftler zwischen Freiburg, Neuf-Brisach und Argentinien an. Dort kümmerte sich Xenias Vater als Großgrundbesitzer um die Belange der Ärmsten der einheimischen Bevölkerung. Ihre Halbschwester Despina hingegen baute dort in großem Stil gentechnisch veränderte Sojapflanzen an. Und Xenia will, dass Kilian für sie das Notebook eines seiner Kollegen, der für den Saatzucht-Konzern Gutachten erstellt, bei einem Kongress mitgehen lässt.
Sie hofft, den mysteriösen Umständen des für ihren Vater tödlichen Flugzeugabsturzes auf die Spur zu kommen. Der 1948 in Hannover geborenen ehemaligen Kinderärztin, die selbst engagiert auf wissenschaftlichem Gebiet tätig war und etliche Sachbücher verfasste, ist ein Wissenschaftskrimi gelungen, der Erkenntnisse über die grüne Gentechnik auf dem neuesten Stand referiert. Wie sie etwa in den Auseinandersetzungen um die Gentechnik-Kartoffel Amflora zutage treten: Bei dieser Züchtung wurde das Verhältnis der unterschiedlichen Stärkeanteile zum Zweck besserer industrieller Verwertung stark verändert. Mediziner halten sie für gesundheitlich bedenklich. Denn sie enthält ein Resistenzgen gegen ein Antibiotikum, das heute noch in der Therapie eingesetzt wird. In Österreich, Luxemburg und Ungarn ist Amflora deswegen seit 2010 verboten.
Dass in diesem Umfeld mit harten Bandagen gekämpft wird, ist bekannt. Und so deuten in "Schlangensaat" alle Umstände ebenfalls auf brutale Geschäftsmethoden hin.

 

Mechthild Blum in Badische Zeitung 19.Juli 2011